Briefkontakte

    Die erste persönliche Begegnung zwischen Ilse Shindel und ihrer Solinger Briefkorrespondentin, London 1999. Foto: Michael Sandmöller
Die erste persönliche Begegnung zwischen Ilse Shindel und ihrer Solinger Briefkorrespondentin, London 1999. Foto: Michael Sandmöller

Schon kurz nach ihrer Gründung hat die AG Jüdischer Friedhof begonnen, Briefkontakt zu emigrierten jüdischen Mitbürgern aufzunehmen, deren Verwandte bis 1941 in Solingen bestattet wurden.

30.06.1988
Unser erster Brief geht an Ilse Shindel nach London:

Sehr geehrte Frau Shindel!

Die Gesamtschule Solingen hat im vergangenen Jahr die Patenschaft für den mittlerweile geschlossenen jüdischen Friedhof am Erbenhäuschen übernommen. In Absprache mit der jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal besuchen wir – eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern (12-13 Jahre alt) – jede Woche den kleinen Friedhof, um die letzte Ruhestätte jüdischer Mitbürger zu hegen und zu pflegen.

In der Schule und auch im Elternhaus haben wir von dem unglaublichen Unrecht gehört, das auch den Juden in Solingen zugefügt wurde. Wir wollen dafür eintreten, dass nicht mehr Unverständnis und Hass, sondern Verständnis und Liebe unser Verhalten den Mitmenschen gegenüber bestimmen.

Wir haben im Stadtarchiv Solingen erfahren, dass Sie die Tochter der Eheleute Alexander und Helene Leven sind. Ebenfalls erfuhren wir, dass Ihre Verwandten aus Remscheid (Albert und Rosalie Leven) auf dem jüdischen Friedhof begraben sein müssten. Darum haben wir nachgeforscht und die vier Grabstätten auch gefunden. Wir wissen sonst gar nichts von Ihnen. Deshalb würden wir uns freuen, wenn Sie uns einige Mitteilungen übersenden, aber auch für ein kleines Lebenszeichen wären wir schon sehr dankbar.

Es grüßen sehr herzlich aus Ihrer Heimatstadt Solingen: die Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Solingen

20.07.1988
Ilse Shindel, kurz vor Kriegsausbruch nach England entkommen, schreibt aus London:

Es gibt, glaube ich, keine Worte, die meine Gefühle ausdrücken können, aber zum mindesten kann ich sagen, dass ich tief gerührt war und noch immer bin über den Inhalt des Briefes…. Sie haben mir mit Ihren Zeilen den Glauben an die Menschen wiedergegeben.

07.09.1988
Eva Schaalmann, als 10-jähriges Mädchen mit den Eltern nach Brasilien emigriert, schreibt aus Sao Paulo:

Dein Brief, liebe Anja, hat mich sehr geruehrt, und ich freue mich an Eurem Interesse (…) Als wir im Jahre 1936 Deutschland verlassen mussten, fiel meinen Eltern Karl und Erna Isaac und meinem kleinen damals 6jährigen Bruder, und vor allem mir, einem damals 10jährigen Mädelchen, dass schon alt genug war, um zu wissen, was so ein Abschied bedeutet, die Trennung von meinen Freundinnen, der Abschied aus Deutschland, meiner Schule und meinen Mitschülerinnen, die eine Reizende Abschiedsfeier für mich machten, sehr schwer.

14.02.1989
Karola Schlussel, Enkelin von Jenny und Georg Giesenow, während des Krieges verborgen lebend, schreibt aus Brüssel:

Ich war sehr gerührt, als ich Ihren und den Brief von Juliane H. las, in dem Sie schreiben, dass Sie sich jetzt um den jüdischen Friedhof kümmern wollen, um die Grabstätten sauber zu halten. (…) Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Blumen pflanzen wollen, …

30.05.1989
Sela Trau, geb. 1898 in Solingen, dem Holocaust durch Emigration in den 1930er Jahren entkommen, schreibt von der Insel Tasmanien:

Bitte laß mich herzlichst danken für Deine wohlwollende Haltung und Euer Vorhaben. Ich bin sehr dankbar dafür, daß ein solch persönliches Experiment realisiert wurde, dass da einer ist, der
einen Teil meines Lebens mit mir teilt und den Glauben an die Möglichkeit einer besseren Welt.

01.09.1989
Hans Hellmut Reiche, Urenkel des Solinger Ehrenbürgers Gustav Coppel, schreibt aus Hilden:

Bedanken wollen wir uns für die mit viel Liebe, Verständnis und letztlich auch Zeit und Arbeit verbundene Aufgabe Ihrer AG, die Pflege des jüdischen Friedhofs in Solingen zu übernehmen.
Eine Tatsache, die uns Älteren und Betroffenen gar nicht so selbstverständlich scheint. Vielleicht erfreut sie uns deshalb umsomehr. (…)

Und welch schöner Leitsatz steht über Ihrer Arbeit bzw. der der AG, Worte, die uns hoffen lassen. Mögen sie nicht im Winde verwehen, sondern Widerhall finden!

23.04.1990
Ursula Hirschberger, geb. Coppel, eine Urenkelin des Ehrenbürgers Gustav Coppel, emigrierte im Jahre 1934 als kleines Mädchen mit ihren Eltern in die Schweiz. Sie schreibt aus München:

Seit einem Jahr weiß ich von der AG, die den jüdischen Friedhof in Solingen pflegt. Die Nachricht von dieser schönen Geste hat mich aufs tiefste berührt und sehr gefreut. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wunderbar es ist zu hören, daß gerade junge Menschen sich zu solchen Initiativen bereitfinden…. Grüßen Sie all die fleißigen jungen Menschen von der AG herzlichst von mir; sagen Sie ihnen meine Achtung und Bewunderung für ihr Tun. Diese Gesinnung wärmt das Herz… .

12.02.1992
Hanna Wechselblatt, geb. Feist, als kleines Mädchen mit den Eltern nach Schweden emigriert, schreibt aus Stockholm:

Es ist erfreulich, dass es junge Leute gibt, die Ideale haben. (…) Man sagt, daß jeder Mensch ist eine ganze Welt. Wer einen Menschen tötet, zerstört eine ganze Welt. Aber auch, wer einen Menschen rettet, rettet auch eine ganze Welt. Die Teilnehmer Ihrer AG, weil nicht geboren, konnten in den schrecklichen Jahren der Vergangenheit niemanden retten, dafür tun sie es jetzt: Sie retten in Ehre das Andenken ihrer verstorbenen Mitbürger. Und was Edleres kann man sich kaum vorstellen.

12.01.1994
Carl-Anton Reiche, Urenkel des Solinger Ehrenbürgers Gustav Coppel, zu seiner Emigration befragt, schreibt aus North Carolina, USA:

Mein Bruder und ich erhielten in Frankfurt/M. als Nazi-Verfolgte bevorzugt Einreise-Visen und verließen Bremerhaven auf einem ausrangierten US-Truppentransporter, sehr primitiv, landeten am 23.05.1946 in New York. Als erstes Schiff, das mit Zivilisten die USA nach dem Krieg erreichte, wurden wir von dem berühmten Oberbürgermeister Fiorello La Guardia empfangen.